Der gute Hirt
(1) Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. (2) Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. (3) Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. (4) Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. (5) Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. (6) Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. (7) Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. (8) Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. (9) Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (10) Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.
Meditative Gedanken
Ob Jesus sich da nicht etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hat? Zugegeben, das Bild ist romantisch schön: Der gute Hirte ruft seine Schafe beim Namen, und die folgen ihm auf saftige Weiden. Fremde Stimmen beachten sie erst gar nicht.
Ein ehrlicher Blick auf mein Leben macht mich skeptisch. Nicht, dass ich der Stimme des guten Hirten nicht folgen wollte. Aber dass es mir immer gelingt, SEINE Stimme von den verführerisch bösen zu unterscheiden, kann ich nicht behaupten. Und auch die „Schafe“ Jesu sind wohl nicht davor gefeit, ihre Hoffnung auf „falsche“ Hirten zu setzen.
Leider gibt uns das Evangelium keine Liste mit den wichtigsten Unterscheidungskriterien für die „richtige“ Stimme. Aber Jesus macht etwas anderes deutlich: Er zeigt uns, wer Gott ist und was seine größte Sehnsucht für den Menschen ist: Leben in Fülle.
Diebe und Räuber – nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht – schrecken nicht davor zurück, das Leben anderer einzuengen oder gar zu vernichten. Im Gegensatz zu ihnen schenkt Gott Leben, ermöglicht es. Er selbst ist „Leben in Fülle“, und in Christus haben wir Anteil daran. Und zwar schon hier und jetzt, nicht erst irgendwann in einem „anderen“ Leben nach dem Tod: Wo ich wirklich lebendig bin, wo ich echte Freude oder tiefen Trost erfahre, wo ich von ganzem Herzen liebe und geliebt werde, wo ich authentisch sein und die Welt gestalten kann, wo ich im Vertrauen auf Gottes liebende Gegenwart lebe – da wird das verheißene Leben in Fülle schon Wirklichkeit.
Dieses Leben ist mir in Christus geschenkt, ich kann es nicht selbst machen oder mir verdienen. Aber Gott zwingt es nicht auf. Das Bild von der Tür macht deutlich: Ich bin frei. Christus ist die offene Tür zum Leben – durchgehen muss ich selbst. Auch wenn mich Ängste oder Zweifel daran hindern, auf seine Stimme zu hören und mich von ihm tiefer ins Leben führen zu lassen: Christus ruft mich geduldig beim Namen. Wo mich die Stimme – in aller Freiheit – zu mehr Lebendigkeit und Liebe zu uns selbst, zu Gott, dem Nächsten oder der Schöpfung ruft, da kann ich darauf vertrauen, dass es die Stimme des „guten Hirten“ ist. Denn Gott will, dass ich lebe. Darum ist er Mensch geworden: damit ich, damit alle das Leben haben – und zwar in Fülle.
Anna Stricker, Referentin im Arbeitsbereich Verkündigung und Ökumene, Bistum Trier
Fürbitten
Jesus Christus ist der gute Hirte. Er sammelt und führt die Menschen an und verheißt uns und allen Leben in Fülle. So dürfen wir in unseren Anliegen zu ihm beten:
- Für alle Menschen, deren Leben aus den Fugen geraten ist und denen nun Orientierung und Halt fehlen.
- Für die Menschen, die in Lebensberatungsstellen und Seelsorge und im Alltag anderen zuhören und ihnen helfend zur Seite stehen.
- Für die Frauen und Männer, die infolge der Corona-Pandemie von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen sind.
- Für alle, die jetzt verstärkt nach fairen Lösungen für den Arbeitsmarkt suchen und für gerechte und angemessene Bezahlung sorgen können.
- Für die Politikerinnen und Politiker, deren Entscheidungen weitreichende Folgen haben. Für alle, die sich auch weiterhin um ein solidarisches Miteinander und angemessene Lockerungen bemühen.
- Für alle Menschen, deren Leben durch Covid19 oder andere schwere Krankheiten bedroht ist. Für alle, die in Medizin und Wissenschaft nach Medikamenten und Impfstoffen forschen, die zur Heilung dienen.
- Für die Christinnen und Christen, die in dieser Krisenzeit in Freude und Entschiedenheit ihren Glauben bezeugen – in physischem Abstand und innerer Nähe zu den Menschen.
- Wir beten besonders für junge und ältere Menschen, die eine Geistliche Berufung spüren und diesem Ruf von Gott folgen möchten; für alle, die sich auf einen Dienst in der Kirche vorbereiten.
Jesus Christus, du rufst uns Tag für Tag neu, dir zu folgen; du begleitest unsere Wege. Dafür danken wir dir und preisen dich mit Gott, dem Vater und dem Heiligen Geist heute, alle Tage unseres Lebens und in Ewigkeit.
Amen.
Andrea Schwindling, Völklingen